Umwelt: Tier des Monats Mai: Die WattschneckenVon Eider-Kurier13.05.2018, 17.08 UhrFoto: Text/Foto: Rainer Borcherding, Schutzstation Wattenmeer Das Wattenmeer ist ein Lebensraum auf den zweiten Blick, denn viele seiner Bewohner sind klein oder im Boden vergraben – oder beides. Die meist nur ein bis drei Millimeter „große“ Wattschnecke ist ein typisches Beispiel hierfür. Sie kann mit bis zu 100.000 Exemplaren pro Quadratmeter auftreten, wird aber sehr leicht übersehen und für einen Krümel oder ein großes Sandkorn gehalten. Hat man diesen Irrtum überwunden und betrachtet die kleinen Schnecken ganz genau, kann man – vor allem im Mai – auf manchen Gehäusen winzige Sandklümpchen entdecken. Sie lassen sich nicht einfach abwischen, denn sie wurden von anderen Wattschnecken mit Sorgfalt dort angeklebt. Unter einer dünnen Schicht aus Sandkörnern enthält so ein Klümpchen etwa zwanzig Wattschneckeneier, aus denen später kleine Planktonlarven schlüpfen. Sie gehen nach einigen Wochen als winzige Babyschnecken zum Bodenleben über und verjüngen die Heerschar der Schnecken auf dem Watt. Auf dem Wattboden gibt es kaum harte Gegenstände, an denen Eipakete befestigt werden können. Die Wattschnecken bekleben sich daher gegenseitig mit ihren Eiern. Die Tierchen werden meist nicht einmal ein Jahr alt und pflanzen sich im Sommer regelmäßig fort. Sie fressen mikroskopische Algen von der Wattoberfläche und halten in Seegraswiesen die Seegrasblätter sauber. Ohne diese „Putzkolonne“ wächst das Seegras im Wattenmeer schlechter. Wo Seegras fehlt, verzehren die Wattschnecken organische Reste von der Wattoberfläche. Meist haben das schon andere Wattschnecken vor ihnen getan, und so fressen die Schnecken oftmals die Kotpillen ihrer Artgenossinnen. Die Bakterien, die inzwischen darin gewachsen sind, sind offenbar sehr nahrhaft. Beim Umherkriechen in Wattpfützen können Wattschnecken auch mit dem Bauch nach oben an der Wasseroberfläche entlangkriechen und dort den Schmutzfilm fressen. Kommt die Flut, werden sie vom Gezeitenstrom emporgehoben und mit drei – fünf Stundenkilometern über die Wattflächen getragen – für eine Schnecke ein weltrekordverdächtiges Tempo! Im Ökosystem Wattenmeer ist die Wattschnecke nicht nur als Zersetzer von organischen Resten wichtig, sondern auch als Nahrungstier: Die Brandente ernährt sich hauptsächlich von Wattschnecken, die sie mit dem Schnabel aus dem Schlickwatt siebt. Auch Watvögel und Strandkrabben fressen Wattschnecken. Daher nutzen verschiedene parasitische Würmer die Wattschnecke als Zwischenwirt, um in den Darm von Seevögeln zu gelangen. So spielt die winzige Schnecke eine große Rolle im Nahrungsnetz des Wattenmeeres. Info: Nationalparkthemenjahr „Muscheln und Schnecken“ 100.000 Muschelarten gibt es auf der ganzen Welt, nur 15 davon im Nationalpark Wattenmeer. Trotzdem spielen die Weichtiere mit der harten Schale eine zentrale Rolle in diesem Ökosystem. Ihre wöchentliche Filterleistung entspricht dem gesamten Wasservolumen des Wattenmeeres, sie sind also eine große biologische Kläranlage. Anlässlich des Themenjahres „Muscheln und Schnecken“ berichtet Biologe Rainer Borcherding monatlich über die Welt der Weichtiere im Nationalpark Wattenmeer. Text/Foto: Rainer Borcherding, Schutzstation Wattenmeer